„Gehorsams-Verletzte“ – ein Gedankenimpuls

reine LeseZeit für diesen Artikel sind 5 Minuten – aus meiner Sicht, eine gut investierte Zeit.

Durch einen Newsletter meiner ehemaligen Ausbilderin Simran Kaur Wester in „Gewaltfreie Kommunikation“ erhielt ich diesen Impuls und möchte den Inhalt sehr gerne an dich weiterleiten. Vielleicht macht er dir Mut auch anderen Menschen auf diese Situation aufmerksam zu machen oder möglicherweise ist es für dich ein Schlüsselerlebnis der Erkenntnis:-)

Nun beginnt deine LeseZeit:

Wo kommt die Gewalt her, die sich im menschlichen Miteinander immer wieder zeigt? Wie kann es angehen, dass Menschen andere, die ihnen wehrlos ausgeliefert sind, abweisend und Mitgefühls-los behandeln? Antworten auf diese Frage zu finden und Wege aufzuzeigen, wie diese Gewalt überwunden werden kann, war für Marshall Rosenberg eine wichtige Motivation, zunächst Psychologie zu studieren und dann auf der Basis der Humanistischen Psychologie nach Carl Rogers die gewaltfreie Kommunikation zu entwickeln.

Was es braucht, um Menschen so zu verformen, dass ihre Mitgefühlsfähigkeit verkümmert oder unterdrückt wird, hat auch der Psychologe und Schriftsteller Arno Gruen in vielen Vorträgen und Texten veranschaulicht, und sie ergänzen und bestätigen, was mir durch die Auseinandersetzung mit der Gewaltfreien Kommunikation und ( unter anderem ) durch die Lektüre von Alice Millers Büchern und Gerald Hüthers Vorträgen bewusst geworden ist.

Je mehr ein Kind gezwungen wird, gehorsam zu sein und seinen eigenen Willen zu verleugnen, zu unterdrücken und als falsch zu verstehen, wenn es also lernt, sich dem Willen der Erwachsenen zu unterwerfen, ihn zu seinem scheinbar eigenen zu machen und alles Eigene als unwert zu betrachten, umso mehr wird der Mensch als Erwachsener alles Fremde, Andersartige, Neue und Schwächere ablehnen, verachten und bekämpfen. Er bekämpft somit weiterhin genau diese Anteile in sich, die er als Kind nie kennen lernen durfte und denen er daher nicht vertrauen kann.

Aus schierer Überlebensnotwendigkeit macht das Kind sich die Sichtweise dieser Erwachsenen und schließlich jeder Autorität zu eigen, die Unterwerfung verlangt. Im Prinzip ist es das sogenannte Stockholm Syndrom, das in tausendfacher Wiederholung in den Kinderzimmern autoritärer Familien stattfindet – die tragische Identifizierung des Opfers mit den Tätern. Das wirklich Tragische daran ist die heftige Gewalt, die es braucht, um ein Kind dermaßen zu zerbrechen. Diese Gewalt zeigt sich dann wieder in Rassismus, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit und allen Formen von Mobbing. In der Kaltblütigkeit von Abschiebegesetzen und der würdelosen Behandlung von z.B. Langzeitarbeitslosen.

Kürzlich wurde ein Linken-Politiker, der zu einer Demo am 25.5.2019, dem Tag vor der Europawahl, aufgerufen hatte, in einer Email mit folgenden Worten bedroht:“Du dreckige Zecke, wir werden dich aufschlitzen, am 25.Mai ist dein Todestag.“

Was muss der Absender als Kind Schreckliches erlebt haben, um so eine hasserfüllte Äußerung abzugeben. Und er ist ja keine Ausnahme – millionenfach bedrohen und erniedrigen solche Menschen andere, nur weil sie nicht dem Idealbild dieser Gehorsams-Verletzten entsprechen – z.B. weil sie eine dunklere Hautfarbe haben als diese.

Das Handeln dieser Menschen ist nicht durch Vernunft gesteuert. Man kann sie daher auch nicht über die Vernunft erreichen, um ihnen Toleranz und Mitgefühl nahe zubringen. Wie soll das auch gehen, wenn genau Toleranz und Mitgefühl als bedrohlich empfunden werden? Argumente und Appelle greifen nicht, Dialog auf Augenhöhe ist unmöglich – weil in einem Gehorsams-Verletzten kein souveränes Ich anwesend ist. Strafen, Sanktionen und Gegenbedrohung werden sie nur noch mehr in ihrem Tun bekräftigen, zumal, wenn sie von Menschen oder Institutionen kommen, die nicht ihren Idealbildern entsprechen, sonder den bekämpfen. Was bleibt?

Könnte es sein, dass Gehorsams-Verletzte vor allem eins brauchen, um vom Hass und der Unterdrückung ihres Ureigenen und dann alles „Anderen“ wegzukommen: Verständnis für ihren verborgenen Schmerz ( was nicht Einverständnis mit ihren Ansichten und Taten bedeutet!), Trost und Unterstützung, um Menschlichkeit zu lernen? Vielleicht zum ersten Mal als verletzbare und verletzte Menschen gesehen zu werden? Mitgefühl kann man nur sehr ansatzweise über den Verstand lernen – wirklich verankert wird es durch die eigene, als heilsam erlebte Erfahrung.

Dabei ist wichtig zu beachten, dass dieses Verständnis und die Unterstützung, den eigenen Schmerz anzunehmen, nicht von einer als aufgezwungen empfundenen Person kommt ( z.B. verordnete Therapeuten ), sondern von jemandem, dem dieser Mensch auf Augenhöhe begegnen kann und dem er vertraut. Von oben verordnete Therapie wird als Entwürdigung empfunden und führt zu heimlichem oder offenem Widerstand.

Was für eine Riesen-Aufgabe wir als Gesellschaft, als Menschheit da vor uns haben – einerseits, bedrohte Menschen nachhaltig vor diesen Gehorsams-Verletzten zu schützen, andrerseits, die Weitergabe der Gehorsams-Krankheit von einer Generation an die nächste zu unterbrechen und Räume zu öffnen, in denen diese Verletzten heilen können.

Darum liegen mir alle Schulen, Kitas und Jugendeinrichtungen so am Herzen, die sich um die individuelle Entfaltung jedes einzelnen Kindes kümmern und die Fähigkeit zu Mitgefühl und Kooperation fördern. Wenn das Ureigene, das Lebendige in jedem Kind sein darf, anerkannt und gefördert wird, dann haben wir als Menschheit eine Chance, wegzukommen von individueller und struktureller Gewalt.

In etwas abgeänderte Form erschienen in: Empathische Zeit, Ausgabe 3/ 2019 ( zu beziehen unter www.empathikon.de )

 

DANKE, dass du dir Zeit genommen hast, diesen Artikel zu lesen – fühle dich geherzt von Inka